Vom Zwang zur Freiheit zur
Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang:

Freisetzung und Vergesellschaftung des Subjekts von der Aufklärung bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts

Internationales, interdisziplinäres Forschungskolloquium
24. – 26. März 2010

Veranstaltende Institutionen:

Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Forschungszentrum "Laboratorium Aufklärung", Friedrich-Schiller-Universität Jena

Landesforschungsschwerpunkt "Aufklärung – Religion – Wissen", Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Wissenschaftliche Leitung:

Prof. Dr. Daniel Fulda (IZEA)
Prof. Dr. Hartmut Rosa (Jena)
Prof. Dr. Heinz Thoma (ENW)

Das Kolloquium geht von der Diagnose aus, dass das Konzept der Freiheit und die auf ihr gründende Wirtschaftsweise gegenwärtig im Begriff sind, ihre Form wie ihre Legitimationsweise nachhaltig zu verändern. Eine sich mit der Globalisierung verdichtende Vergesellschaftung, die Verengung natürlicher Ressourcen sowie eine sich verschärfende Asymmetrie von Reichtum und Macht gehören zu den sozialen Kennzeichen dieser Entwicklung. Zu ihren wesentlichen politischen, diskursiven und kulturellen Kennzeichen gehört die seit rund zwei Dezennien verstärkt beobachtbare Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang. Mit der spätestens nach 1989 wirksamen Universalisierung des Freiheitsdiskurses vereinheitlichen sich tendenziell die semantischen Anforderungen an das Verhalten von bisher getrennten Bereichen wie Arbeit und Freizeit (Flexibilität, Zufriedenheit, Glück), verwischen sich Leistung und Dienstleistung (mitarbeitender Kunde), wachsen zugleich die Anforderungen an alle Subjekte zur ökonomischen und mentalen Selbstführung (Gouvernementalität). Wissensschübe, wie etwa in der Genforschung, bringen eine Widerspruchssituation von Möglichkeit und bedrohlicher Beschränkung in den physischen Grundlagen des Menschen hervor. Ähnliches gilt für die Effekte der Digitalisierung. Zunehmend wird Zwang im Namen der Freiheit begründet bzw. nimmt semantisch und aktantiell deren Gestalt an (Bologna-Prozess, Hochschulfreiheitsgesetz NRW 2006, Emissionshandel, Terrorismusbekämpfung etc.). Begleitet wird dieser Prozess von einer Fülle von Studien zur Veränderung in der Subjektposition. Die Hypothese einer qualitativ neuen Stufe des Modernisierungsprozesses bietet sich demgemäß an.

In früheren Modernisierungsschüben bzw. deren Wahrnehmung wurde in der Regel die Aufklärung befragt bzw. als Ausgangspunkt der Entwicklung ausgemacht. Hierbei gibt es die Haltung eines positiven Bezugs (z. B. Littré 1855, Habermas 1981, cf. noch Postman 1999) wie das Gegenteil des kritischen Verdikts (Lebensphilosophie, Vernunftkritik, Poststrukturalismus).

Im Rahmen des Kolloquiums soll im Blick auf die Gegenwart geprüft werden, ob die Hypothese einer sich abzeichnenden Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang tragfähig ist und inwiefern sie ggf. ein signifikantes Symptom dafür darstellt, dass wir im Begriff sind, die Koordinaten der Aufklärung definitiv zu verlassen.

Im Blick auf die Aufklärungsepoche wird gefragt, inwiefern diese bereits in der Begrifflichkeit von Zwang und Freiheit als Prozess eindeutiger Richtung und Entlastung begriffen wurde (Ausgang in die Freiheit, Autonomie) bzw. inwiefern beider Unterscheidbarkeit tatsächlich zum unabdingbaren sachlichen und argumentativen Kernbestand der Epoche gehört (z.B. Rousseau, Kant).

Insgesamt geht es bei der Prüfung dieser Konstellationen der Aufklärung und der Gegenwart also nicht in erster Linie um eine Reformulierung des philosophischen Problems von Freiheit und Notwendigkeit, sondern vielmehr um die Inaugenscheinnahme, Prüfung und Erfassung eines Langzeittrends widersprüchlicher Freisetzung und Vergesellschaftung des Subjekts in seinen kulturellen und argumentativen Ausdrucksformen. Hierbei sind auch erhellende Zugänge zu Zwischenetappen dieser Entwicklung (z. Avantgarden, Fordismus, Theorien der Außenleitung des Subjekts etc.) durchaus von Nutzen.

Tagungsprogramm

Programmänderung!

Mittwoch, 24. März 2010
14.00 Uhr

Eröffnung / Grußworte

Prof. Dr. Dr. h. c. Wulf Diepenbrock
(Rektor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Prof. Dr. Wolfgang Auhagen
(Prodekan der Philosophischen Fakultät II)

Prof. Dr. Daniel Fulda
(Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA))

Prof. Dr. Udo Sträter
(Sprecher des Landesforschungsschwerpunkts "Aufklärung – Religion – Wissen")

14.20 Uhr Heinz Thoma (Halle):
Einführung
14.30 Uhr Ulrich Barth (Halle):
Kulturwissenschaftliche Vorüberlegungen zur Frage der Unterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang
15.15 Uhr Ralph Koerrenz (Jena):
Pragmatischer Atheismus als Elementarfunktion religiöser Bildung
16.00 Uhr Kaffeepause
16.30 Uhr Ulrich Bröckling (Halle):
"Wir müssen immer tun, was wir wollen!" Paradoxien einer Erziehung zur Freiheit
17.15 Uhr Olaf Breidbach (Jena):
Neuroanthropologie. Die Notwendigkeit, ein Mensch zu sein
18.30 Uhr Abendvortrag:
Hartmut Rosa (Jena):
Unfreiheit durch Optionenvermehrung: Der kategorische Imperativ der Spätmoderne und das gebrochene Versprechen der Aufklärung
19.30 Uhr Sektempfang
Donnerstag, 25. März 2010
09.00 Uhr Daniel Fulda (Halle):
"Kein Mensch muss müssen"? Zwang und Freiheit in der Tragödie der Moderne
09.45 Uhr Albrecht von Massow (Weimar):
Vergesellschaftung oder Autonomie – Musik als Austragungsort eines Scheinwiderspruchs
10.30 Uhr Kaffeepause
11.00 Uhr Udo Sträter (Halle):
Innen und Außen.. Idee und Funktionsweise des Pietismus in der Frühaufklärung
11.45 Uhr Ole Fischer (Jena):
Zur Rolle der "Vorsehung" in der (Auto-)Biographie des pietistischen Theologen Adam Struensee (1708-1791)
12.30 Uhr Mittagspause
14.30 Uhr Heinz Thoma (Halle):
Herr-Knecht und andere Bestimmungsgründe in der Anthropologie der Aufklärung
15.15 Uhr Axel Rüdiger (Halle):
Das politische Subjekt der Aufklärung. Freiheit und Zwang in Staatswissenschaft und politischer Ökonomie im 18. Jahrhundert
16.00 Uhr Kaffeepause
16.45 Uhr Friederike Kuster (Siegen):
Retrograde Modernisierung: Rousseaus Republik der Tugend. Die Artikulation bürgerlicher Autonomie auf der Basis modernitätskritischer Prämissen
17.30 Uhr Kristin Reichel (Halle):
Diderots Subjekt-Modell in Darstellungen des Individuums in Natur und Gesellschaft
18.00 Uhr Christophe Losfeld (Halle):
Zur Natur und Gesetzgebung. Rousseaus Verfassung für Korsika
Freitag, 26. März 2010
09.00 Uhr Jörn Garber (Kassel):
Von der "staatlichen" Sozialdisziplinierung zur "individuellen" moralischen Ökonomie. Fremd- und Selbstzwangtheorien im Diskurs von Aufklärung und moderner Geschichtswissenschaft
09.45 Uhr Matthias Kaufmann (Halle):
Gouvernementalität statt Freiheitsideal? Zur vermeintlichen endgültigen Aufklärung über die Aufklärung
10.30 Uhr Kaffeepause
11.00 Uhr Georg Schmidt (Jena):
Alte und neue Freiheit – Von Herder bis Benjamin Constant
11.45 Uhr Hans Blom (Rotterdam):
Befreiungen und ihre Bedingungen. Spinoza, Mandeville, Simmel
12.30 Uhr Mittagspause
14.30 Uhr Harald Bluhm (Halle):
Tocqueville – Freiheit als prekäre Lebensform
15.15 Uhr Dorothee Röseberg (Halle):
Laïcité: Zivilreligion und gesellschaftliche Kohäsion
16.00 Uhr Kaffeepause
16.30 Uhr Wolfgang Asholt (Osnabrück):
Avantgarden im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Zwang
17.15 Uhr Kathrin van der Meer (Osnabrück):
Die Gesellschaft im Körper? Reaktionen der Gegenwartsliteratur
18.00 Uhr Karl-Siegbert Rehberg (Dresden):
Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung? Ambivalenzen der Gehlenschen "Gegenaufklärung"