Tagung vom 24. bis 26. September 2015 in Halle an der Saale
Veranstaltet vom Landesforschungsschwerpunkt 'Aufklärung – Religion – Wissen' der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Kooperation mit den Franckeschen Stiftungen und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina
Veranstaltungsort: Franckesche Stiftungen zu Halle, Haus 1
Leitung: Sebastian Böhmer, Constanze Breuer, Thomas Müller-Bahlke und Klaus Tanner
Programmänderung
Der Vortrag von Dr. Asiem El Difraoui wird vorgezogen und findet am Freitag, den 25. September, um 11 Uhr statt.
Der Vortrag von Prof. Dr. Sabine Anagnostou fällt leider aus.
Dafür wird Thomas Ruhland (Kassel) am Freitag, den 25. September, um 16 Uhr einen Vortrag mit dem Titel "Naturgeschichte als Bestandteil der protestantischen Mission im 18. Jahrhundert – das Beispiel Südasien" halten.
Es ergeben sich damit folgende neue Sektionen:
Freitag, 25. September 2015
Sektion 1
Moderation: Thomas Müller-Bahlke
9.15 Uhr Klaus Tanner (Heidelberg)
Einführung
10.15 Uhr Nicole C. Karafyllis (Braunschweig)
Technik und Weltoffenheit – ein Spannungsverhältnis
11.00 Uhr Asiem El Difraoui (Paris)
Jihad 2.0
und
Sektion 3
Moderation: Daniel Cyranka
15.15 Uhr Simon Wolfgang Fuchs (Princeton)
Modernismus im Blut: Muhammad al-Khalisis medizinisch-technologische Lesart des schiitischen Islams
16.00 Uhr Thomas Ruhland (Kassel)
Naturgeschichte als Bestandteil der protestantischen Mission im 18. Jahrhundert – das Beispiel Südasien
16.45 Uhr Svea Bräunert (Potsdam)
Licht und Auge Gottes: Wie die Kunst das Versprechen der Drohne bricht
Flyer (alte Version) als Download
Die seit der Aufklärung etablierte Abgrenzung von Religion und rational verstandener Wissenschaft leuchtet aus der Perspektive der Ratio deutlicher ein als aus der Perspektive des Glaubens. Sie ist Teil einer revisionsbedürftigen Modernisierungstheorie, die linear und einseitig von einer fortschreitenden Verdrängung der Religion durch die Wissenschaft ausgeht. Dabei stellt sich die Wissenschafts- und Technikgeschichte weitaus differenzierter dar, denn Gläubige haben schon immer versucht, rational erworbenes Wissen und die aus diesem entwickelten Technologien und Techniken in ihr ‚Weltbild‘ zu integrieren, auch um es für ihre Zwecke in Dienst nehmen zu können.1 Insbesondere seit der Frühen Neuzeit verdichten sich religiöse Diskurse und lassen sich Akteure und Praktiken erkennen, welche die sich herausbildenden empirischen Wissenschaften sowie die technischen Innovationen in ihren metaphysischen Rahmen integrieren und auch als deren Schubkräfte wirken.2 So waren zahlreiche Geistliche zugleich Naturforscher, wichtige Agrarreformen wurden auch von der Kanzel herunter durchgesetzt usw.
Diese Verstrickungen wurden schon früh in der Literatur reflektiert, man denke an die technische Versiertheit der Protagonisten im Zeichen göttlicher Vorsehung (providence) in Daniel Defoes Romanen Robinson Crusoe oder Captain Singleton. Die Figur des Faust kann als weiteres Beispiel für das komplexe Verhältnis von Wissenschaft, Technologie und Religion verstanden werden: Der Magier des Volksbuchs fährt zur Hölle. Bei Goethe, 200 Jahre später, scheitert der Forscher und Ingenieur Faust zwar noch mit seinen Versuchen am Retortenmenschen, doch werden das technische Projekt der Landgewinnung und die Himmelfahrt schließlich in unmittelbare Nähe gerückt. Unterliegt also der Seelentechnologe Mephistopheles der Gnade Gottes am Realtechnologen Faust?
Neue Technologien ermöglichen nach Niklas Luhmann stets Kontingenzsteigerung und Entlastung.3 Dabei sehen viele ihrer Entwickler und Anwender sie allerdings eingebunden in eine göttliche Ordnung und halten damit ein ausbalanciertes Verhältnis von Ratio und Religion aufrecht. So schreibt Friedrich Dessauer noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts techniktheologisch von einer „Begegnung mit Gott“, der sich „des menschlichen Geistes als Schöpfungsmittel“ bediene.4 Genau in diesem Sinne argumentiert der CDU-Abgeordnete und evangelische Pfarrer Peter Hintze 2011 bei der überparteilich organisierten Beratung über ein Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik im Deutschen Bundestag: „Das ist die Vernunft, die uns Gott gegeben hat und die wir mithilfe der Medizin nutzen.“5 Und als schließlich das Higgs-Boson sehr zum Missfallen seines Entdeckers in ein God particle umbenannt wurde, konnte die Technologie sogar diese technomystische Vision einlösen.
Die Entwicklung neuer Technologien stellt Religionen vor neue Herausforderungen. Technische Möglichkeiten beeinflussen den Zugriff auf das Leben und die Welt und verändern die Diskurse und Praktiken. So lässt die voranschreitende Beherrschung der Natur auch ein göttliches Prinzip überflüssig erscheinen; dafür wird die moralische Verantwortung für die Folgen des technologischen Fortschritts nach Hans Poser heute unmittelbar beim handelnden Menschen gesucht: Aus der Theodizee wird eine Technodizee. Insbesondere die Hochtechnologien (Atomtechnik, Gentechnik usw.) werfen die Frage nach einem neuen ethischen Rahmen auf, in dem die Religion nicht einseitig in die Rolle einer Begrenzerin gebracht werden kann.
Die Tagung fragt, wie genau religiöse Diskurse und Praktiken – offen oder versteckt – die technische Entwicklung beeinflussen. Es wird auch zu überlegen sein, inwiefern mit Hilfe theologischer Kategorien, z.B. der Eschatologie, der durch technische Entwicklung mögliche Zugriff auf Leben und Tod reflektiert werden kann. Denn die Interferenzen von technologischer Entwicklung und religiösen Diskursen besitzen gesellschaftliche Bedeutung offenbar vor allem dort, wo ethische Kernfragen zu Lebens- und Menschen-Begriffen verhandelt werden.
Zudem fragt die Tagung nach den Bedingungen und Zielen, unter denen Technologien – möglicherweise auch als ein Apriori – in religiöse ‚Weltbilder‘ integriert werden. Die homogene Wahrnehmung der Reaktionen religiöser Großgruppen auf neue Techniken verlangt nach einer Differenzierung: Wann und weshalb entscheiden sich religiöse Gemeinschaften – katholische, evangelische, jüdische, muslimische – für die Akzeptanz bestimmter Technologien, wann legen sie die Entscheidung über die Akzeptanz in die Hand des einzelnen Gläubigen und wann und weshalb lehnen sie sie ab? Welche diskursiven und praktischen Verschiebungen erzeugen Technologien im Glaubenssystem? Welche nicht-religiösen Gründe wie Integrationsdruck, demographischer Wandel oder (Geo-)Politik spielen hier eine Rolle? Die Aufgabe wird also sein, zu verstehen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen das technologische Potenzial aus religiösen Gründen begrenzt, genutzt oder vorangetrieben wurde und immer noch wird.
1 Vgl. den erste Forschungsansätze zu verschiedenen historischen Epochen versammelnden Band von Stöcklein, Ansgar u.a. (Hrsg.): Technik und Religion. Düsseldorf 1990.
2 Vgl. Groh, Ruth/Groh, Dieter: Religiöse Wurzeln der ökologischen Krise. Naturteleologie und Geschichtsoptimismus in der frühen Neuzeit. In: Dies.: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt a.M. 1991, S. 11-91.
3 Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstrukturelle Bedingungen und Folgeprobleme des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987, S. 49-63, hier S. 50.
4 Dessauer, Friedrich: Streit um die Technik. Frankfurt a.M. 1956, S. 234.
5 Peter Hintze zu dem von ihm mit-eingereichten (und schließlich verabschiedeten) Gesetzentwurf zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland (Plenar-Protokoll der Sitzung vom 7. Juli 2011, S. 13876).