Der Landesforschungsschwerpunkt "Aufklärung – Religion – Wissen" Sachsen-Anhalt untersucht Transformationen und Wechselwirkungen des Religiösen und des Rationalen im Prozess der Moderne. Im Fokus des Forschungsinteresses steht dabei eine zentrale Frage unserer Gegenwart: Wie können Aufklärung, Religion und Wissen unter den Bedingungen rational organisierter Gesellschaften miteinander verbunden werden?
Beteiligt sind im Entscheidungsgremium des Sprecherrats Vertreter der Fachgebiete Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Geschichtswissenschaft, Historische Musikwissenschaft, Historische Erziehungswissenschaft, Romanistische und Germanistische Literaturwissenschaft. Zwei Nachwuchsforschergruppen erweitern das Spektrum akademischer Disziplinen ebenso wie die zahlreichen assoziierten und kooptierten Projekte mit internationalen Partnern.
Störungen und Spannungen in den gegenwärtigen Beziehungen zwischen Aufklärung, Religion und Wissen können – so die Ausgangsthese des Landesforschungsschwerpunktes – in dem Maße überwunden werden, in dem es gelingt zu klären, inwiefern sowohl der Aufklärung als auch dem Religiösen gemeinsame oder miteinander anschlussfähige rationale Elemente innewohnen. Dazu werden zwei Prämissen gesetzt: Zum einen haben die im 18. Jahrhundert etablierten Rationalitätsstandards, an denen sich die Hüter und Förderer der Aufklärung noch heute orientieren, bedeutende und weitreichende Transformationen erfahren. Zum anderen haben vergleichbare Veränderungsprozesse in einer parallelen Entwicklung auch dem Religiösen in den letzten 300 Jahren neue Dimensionen der Rationalität erschlossen.
Im 18. Jahrhundert lassen sich gleichermaßen Anfang wie Höhepunkt der reflexiven Bemühungen um öffentliche Aufklärung erkennen. Gleichzeitig liegt in ihm auch der Kulminationspunkt der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Religion. Zwar liegt der europäischen Aufklärung eine gemeinsame Programmatik zu Grunde, doch setzen die Gelehrten der einzelnen Länder je spezifisch unterschiedliche Schwerpunkte: So vertritt die französische Aufklärung vor allem die These, dass Wissen nicht anders als nach rationalen Parametern definiert werden kann (z.B. d’Alemberts und Diderots "Enzyklopädie"). In England beherrscht dagegen der Diskurs über politische und moralische Fragen das Denken (z.B. John Locke, David Hume), während in Deutschland schließlich philosophische Systeme entwickelt werden, die die Rahmenbedingungen von Erkenntnis überhaupt abstecken sollen (z.B. Christian Wolff, Immanuel Kant). Parallel dazu geben in den normativen Verhaltensdiskursen der Zeit Konventionen, Rituale, Symbole und Metaphern zu verstehen, wie die mentalen, sozialen und psychischen Auseinandersetzungen mit den Veränderungen der leibhaftigen Verhaltensweisen der Menschen verbunden sind.
Die Universität zu Halle war seit ihrer Gründung im Jahr 1694 fast ein halbes Jahrhundert lang der fruchtbarste wissenschaftliche Sprössling des Taufjahrhunderts der Aufklärung. Gleichzeitig war sie während dieser Zeitspanne der Ort, an dem sich in Gestalt des Pietismus die wichtigste theologische und religiöse Erneuerungsbewegung innerhalb des kontinentalen Protestantismus konzentrierte. In der Arbeit des Landesforschungsschwerpunktes "Aufklärung – Religion – Wissen" begegnet die gegenwärtige hallesche Universität daher nicht nur ihrer eigenen Geschichte. Sie erinnert auch an ihre Anteile an einer Aufklärung des öffentlichen Rechtsbewusstseins (Christian Wolff, Christian Thomasius), an einer rationalen Kultivierung des praktischen religiösen (August Hermann Francke) wie des ästhetischen Bewusstseins (Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier) und an der Auseinandersetzung um die entscheidende Frage der Verträglichkeit von Aufklärung und Religion (Wolff, Francke, Joachim Lange).
Diese europaweit geführten, jedoch wesentlich aus Halle initiierten und geprägten Diskurse des 18. Jahrhunderts zu Aufklärung, Religion und Wissen sowie ihre Beziehungen untereinander werden in den Forschungsprojekten des Landesforschungsschwerpunktes aus der Perspektive und den Problemstellungen des 21. Jahrhunderts analysiert.
In der geistesgeschichtlichen Historiographie – insbesondere in der Geschichtsschreibung der Philosophie – wird das 18. Jahrhundert geradezu topisch als das Jahrhundert des Rationalismus bezeichnet. Gegen diese Zuspitzung ist einzuwenden, dass der gesamte Prozess der Moderne seit der Frühen Neuzeit sich gerade durch eine kontinuierliche Auseinandersetzung um Rationalitätsstandards in allen Dimensionen des menschlichen Lebens verstehen lässt. Vor allem die in Quantität und Qualität exponentiell wachsende natur- und geisteswissenschaftliche Forschung wirft zunehmend neue Fragen auf nach solchen Standards für den Erwerb und die Beurteilung des Wissens. Aber auch die ethische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Distribution des Wissens an den Kreis der nicht-wissenschaftlich Ausgebildeten wird an sie geknüpft, wobei Fragen nach dem Stellenwert der Religion selbst in diese Auseinandersetzung einbezogen werden.
Das 18. Jahrhundert bietet paradigmatische Quellen und Materialien für historische Fallstudien, durch die der Forschungsverbund "Aufklärung – Religion – Wissen" die Transformationen des Religiösen und des Rationalen aus der Perspektive der Gegenwart untersucht. Im Zentrum der Arbeit stehen Prozesse des Kontaktes, der Vermittlung, der Beeinflussung, der Wechselwirkung, der Verflechtung und der Umformung von Rationalitäts- und Religionsdiskursen. Indem europäische Ideen-, Sozial- und Kulturgeschichte als Problem der Gegenwart erkannt und analysiert wird, können – wie schon vor 300 Jahren – von Halle aus neue Akzente in einem bis heute unabgeschlossenen und gesellschaftlich virulenten Problemfeld gesetzt werden.