Der Opportunist. Genealogie einer Sozialfigur |
Die westliche "Kultur" der Moderne erscheint heute nur noch als der "Name für all jene Dinge, die wir tun, ohne wirklich an sie zu glauben, ohne sie 'ernstzunehmen'" (Žižek). Hinter dieser These steht die Annahme, dass sich die Wertrationalismen der Aufklärung im Zuge von Säkularisierung und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung in zynischer Prinzipienlosigkeit, Zweckrationalität und Indifferenz – kurz: in Opportunismus aufgelöst haben.
Das geplante Forschungsvorhaben nimmt die Geschichte dieser vermeintlich postideologischen Gegenwart in den Blick und zielt sowohl auf die Spielarten opportunen Handelns als auch auf die zumeist maskulinen Physiognomien des Opportunisten im Zeitalter der Aufklärung. Wenn der Begriff des Opportunismus und die dazugehörige Sozialfigur des Opportunisten auch erst an der Wende zum 19. Jahrhundert in den Quellen auftauchen, die Karriere des Terminus demnach später einsetzt, so stellt die Aufklärung für die unter anderen Namen ('crassus', 'simulatio', 'cunning' etc.) firmierende Sache des Opportunismus eine Schlüsselepoche dar. Insofern folgt die geplante Dissertation einem anachronistischen Ansatz, wenn sie die Genealogie des Opportunisten 'avant la lettre' in den Diskursen der Aufklärung untersucht.
Der Opportunismus kann zunächst als "Spiel mit Kontingenz" im Spektrum von Anpassung und Abweichung, von Orthodoxie und Heterodoxie verstanden werden. Abgeleitet aus den lateinischen Begriffen 'opportunus' (gelegen, günstig, bequem) und 'opportunitas' (günstige Lage/Gelegenheit, Vorteil) illustriert man den Begriff häufig mittels Kategorien der Doppelmoral, des Heuchlerischen und Unberechenbaren. Zumeist eingebettet in hochgradig moralisierenden Zuschreibungen werden der Opportunismus wie auch seine frühneuzeitlichen Vorläufer überwiegend als Phänomene der Subversion normativer Ordnungen problematisiert. So wettet der Opportunist darauf, dass normative Strukturen vielfach nur latent gegeben sind, dass also nicht jede Abweichung sanktioniert wird. Innerhalb dieser Grauzone nicht sanktionierter Abweichungen akkumuliert er in günstigen Gelegenheiten listenreich taktierend und im Verborgenen, genauer gesagt: hinter den schützenden Masken sozialer Rollen, seine Vorteile. Jene Maskeraden lassen ihn – eine Gegenfigur zum Ideologen – dann mitunter paradox als eine Art "Normenübererfüller" erscheinen.
Mit dem Zerbrechen des mittelalterlichen Weltbildes potenzieren sich im Schatten konfessioneller und politischer Ausdifferenzierung auch die Optionen opportunen Handelns. So findet sich im 17. und 18. Jahrhundert insbesondere in den Diskursfeldern des Strafrechts, der Religion, Ökonomie und Politik eine Auseinandersetzung mit diesem Handlungstypus. In genealogischer Perspektive unternimmt es die geplante Dissertation, die Konturen des Opportunisten anhand der zeitgenössischen Diskursivierungen in diesen vier Feldern zu schärfen.