Biblia Educatorum oder Das gestochene Argument. Daniel Nikolaus Chodowieckis 'Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens' – eine anschauliche Unterweisung zum seligen Leben

Martin Kirves

'Am Anfang ist das Wort', dies lehrt Daniel Nikolaus Chodowieckis 1779/80 erschienene Bildfolge 'Natürliche und afectierte Handlungen des Lebens' den Betrachter, der das erste Bilddoppel dieser 12 Bildpaare umfassenden Folge in Augenschein nimmt. Ein Pädagoge unterweist die ihm anvertrauten Zöglinge. Dabei ist die innerbildlich erteilte Lehre links und rechts augenscheinlich ganz unterschiedlichen Charakters. Dies wird in der Art und Weise kenntlich, wie sich die Rede in Gestik und Körperhaltung der Lehrenden abbildet. Im Gewahren des unterschiedlichen Habitus der beiden Informatoren erkennt der Betrachter die gegensätzliche Bedeutung, welche das Wort auf den verschiedenen Seiten beinhaltet. Entsprechend unterschiedlich reagieren die Schüler, wobei ihr weiteres Leben, die nächsten Bilder der Folge zeigen es, die Frucht des jeweiligen Unterrichts ist. Damit eröffnet die Bildfolge ihre Lehre, die sie dem Betrachter gegenüber entfaltet, zugleich mit dem Satz 'Am Anfang ist die Erziehung'. Beide Sätze aber, 'Am Anfang ist das Wort' und 'Am Anfang ist die Erziehung', erfasst der Betrachter visuell. Ausgangspunkt bleibt somit stets das Bild und die Bilder sind es, welche den Begriffen, den jeweils gleichlautenden Untertiteln, einen Inhalt geben, sie näher bestimmen und definieren, so dass der Satz 'Am Anfang ist das Bild' neben die beiden anderen tritt.

Diese dreifache Perspektivität gewahrend, stellt sich die Frage nach dem spezifischen Verhältnis von Wort, Bild und Bildung. 'Bildung' bedeutet dabei nicht allein die anhand der Bildfolge exemplarisch gezeigte Erziehung und die charakterbildende Kraft, welche das Bild dem Betrachter gegenüber als Potential entfalten soll, der Begriff 'Bildung' beinhaltet zugleich die Arbeit des Künstlers, der sein Werk bildet. Diesem umfassenden Bildungsbegriff liegt eine für das ausgehende 18. Jahrhundert charakteristische Überzeugung zu Grunde, dass die Werke der Bildenden Künste die Menschen, ihren Charakter, ihre Seelen bilden können, was sich, bis zu einem gewissem Grade, auf eine ganz unmittelbare Weise vollzieht. Diese anthropologische Erweiterung des Bildbegriffs, so die hier vertretene These, beruht auf einer Verschiebung innerhalb des Bild-Betrachter-Verhältnisses. Es kommt in diesem zweipoligen Verhältnis zu einer Verlagerung. Diese Bewegung ist nicht offensichtlich, die Bilder teilen sie nicht ausdrücklich mit und dennoch mag sich in ihr das entscheidende Charakteristikum finden, um die Kunst der Aufklärung wesentlich zu bestimmen. Um die fundamentale Bedeutung dieser Verschiebung aufzuzeigen, soll herausgearbeitet werden, inwiefern andere charakteristische Phänomene der Spätaufklärung in sie eingelagert sind. Vor allem steht dabei die zunehmend prekär werdende religiöse Verankerung der Kunst im Vordergrund, eine Krise, welcher mit der Aufwertung der Empfindung beizukommen gesucht wird. Die Empfindung wird zur Rezeptions- wie zur Schaffensgrundlage ausgerufen, nicht zuletzt durch die 'klassizistischen' Schlüsseltexte der Kunsttheorie. In diesen Zusammenhang gehört die Konjunktur des Naturbegriffes. Die Natur ist der Quell, aus dem sich sittlich reine Handlungen unmittelbar speisen. Auch der Künstler steht mit seiner Manier in einem besonderen Handlungsverhältnis zur Natur. Die Spannung zwischen der Herausbildung des Kunstkenners und der Entwicklung eines allgemeingültigen, jedem zugänglichen Geschmacksurteils ist ebenfalls in den Zusammenhang des Kunst-Natur-Dilemmas zu stellen.

Zur Beantwortung der skizzierten Problemstellung soll die chodowieckische Bildfolge stets Ausgangs- und Zielpunkt sein, um die Relevanz der Kunst Chodowieckis auch und gerade im internationalen Austausch der Ideen aufzuzeigen.