Zur Bedeutung des Konzeptes von Anonymität im öffentlichen Mediendiskurs seit der Aufklärung. Phänomenologie – Struktur – Funktion

Sabine Pabst

In der Zeit der Aufklärung finden radikale gesellschaftliche und mediale Veränderungen statt. Die traditionellen Ordnungssysteme des Handelns und Wissens unterliegen im Vollzug der Säkularisierung einer tief greifenden Wandlung. Überkommene Autoritäten werden der Überprüfung durch die Vernunft ausgesetzt. Neben das dominante religiöse Glaubenssystem tritt die Rationalität. Die zunehmende Individualisierung bedeutet für den Einzelnen gleichzeitig auch die Übernahme von persönlicher Rechenschaftspflicht für sein Handeln. Dies führt dazu, dass erst mit dem Auftreten des individualisierten Einzelnen und der ihm zugeschriebenen Verantwortung in der Aufklärung Anonymität im öffentlichen Diskurs relevant und aktiv gesucht wird.

Am Auftreten anonym oder pseudonym veröffentlichter Texte ändern auch institutionelle Maßnahmen wie Urheberschutz und Honorarzahlungen nichts. Befördert wird diese Entwicklung durch die parallele Ausdifferenzierung des Buchmarktes und der Herausbildung einer neuen Medienkultur. Die nun massenhaft und teilweise periodisch erscheinenden Schrifterzeugnisse treten zwischen Autor und Publikum und anonymisieren die Kommunikation. Ich vertrete die These, dass durch die Ausdifferenzierung der medialen Kommunikation in der Aufklärung Anonymität und Anonym-Sein eine besondere gesellschaftliche Bedeutung erlangen und spezifische Funktionen der Selbstreflexion und des moralischen Diskurses übernehmen. Darüber hinaus vermute ich, dass auch in der Gegenwart anonymer öffentlicher Kommunikation eine spezifische Rolle zukommt, die analog zu der Struktur und Funktion der Anonymität im 18. Jahrhundert zu begreifen ist.

Ich gehe also davon aus, dass zwischen radikalen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, technischen Neuerungen und der Zunahme an Attraktivität von Anonymität in der öffentlichen Kommunikation ein Zusammenhang herstellbar ist. Als Modell kann dieses sowohl für die Zeit der Aufklärung als auch für die Gegenwart Gültigkeit beanspruchen und entsprechend adaptiert werden. Ich unterstelle, dass die gegenwärtig konstatierbaren Anonymisierungsprozesse ihren strukturellen und funktionalen Ursprung in Entwicklungen des 18. Jahrhunderts haben. Aus diesem Grund möchte ich die Phänomene Anonymität und Anonymisierung in der Zeit der Aufklärung in ihrer kulturellen Bedeutung rekonstruieren. Vergleichbare Prozesse in der Gegenwart sollen damit historisch eingeordnet und besser verstehbar und erklärbar gemacht werden.