"Sonst ist sein Telemach fürwahr derselbe nicht!" |
Im Jahre 1699 erscheinen anonym und ohne Zustimmung des Verfassers François de Salignac de la Mothe-Fénelon 'Les Avantures de Télémaque', die im Anschluß an das vierte Buch der Homerischen 'Odyssee' die Reisen des Sohnes des Listenreichen schildern: staatskritische Utopie an der Hofhaltung Louis XIV. wie Anweisung zur rechten Regierung zugleich. Zum nationalen Epos Frankreichs erhoben, wurde bereits 1700 in kritischer Auseinandersetzung mit der grassierenden 'Télémacomanie' abgerechnet.
Die zahlreichen zwischen 1700 und 1800 entstehenden Übertragungen ins Deutsche finden ihrerseits bis in die Goethezeit Anklang, andererseits stößt die Vielzahl älterer Übersetzungen und Adaptionen bei der goethezeitlichen Literaturkritik aber auch auf Ablehnung. Nimmt man nun jene skeptische Frage Johann Gottfried Herders, ob die weite Verbreitung, reiche Ausstattung und häufige Übersetzung überhaupt als Indiz für eine intensive Lektüre gewertet werden dürfte, so zeichnen sich signifikante Rezeptionsdifferenzen ab. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, aber zeitnahen Rezeption scheint es faszinierend, die divergierenden Lektüren dieses Fürstenspiegels im deutschsprachigen Raum zu vergleichen – zumal die Figur des Telemach heute eher eine metaphorische Verwendung findet, wenn sie nicht ganz vergessen ist.
Über 20 deutschsprachige Übersetzungen bis 1800 in teilweise unzähligen Neuauflagen und Raubrucken stellen nur einen herausgehobenen Teil der Rezeptionsgeschichte dar; daneben gibt es reale Leser der Übersetzungen, vor allem aber des Originaltextes. Friedrich Wilhelm I. sowie sein Sohn Friedrich der Große zählen zur Leserelite, aber auch das aufgeklärte Bürgertum rezipiert die griechische Antike Homers im Gewand des französischen Klassizismus in zahlreichen Schulbuchausgaben. Meine Studie setzt sich zum Ziel, Rezeptionszeugnisse beizubringen (Übersetzungen, Annotationen, Marginalien, Briefwechsel, Tagebücher und Literaturkritiken) und die zahlreichen Rezeptionsinteressen im Sinne des Kulturtransfers zu beleuchten. Die Télémaque-Rezeption erweist sich als ein wesentlicher Wegbereiter für die Antikenrezeption der Aufklärung wie der Weimarer Klassik. Diese Erkenntnis ist nur möglich, weil der Untersuchungsrahmen im Vergleich zu bisherigen Arbeiten zeitlich ausgeweitet und weniger nach 'Einflüssen' als vielmehr nach 'Interessen' der Rezeption gefragt wird.