Die englische Charakterskizze im frühen 18. Jahrhundert: Einflüsse, Formen und Funktionen (Arbeitsthema)

Theresa Schön

Die Entstehung des modernen Subjekts – und damit des individuellen Charakters im Gegensatz zum Typus – wird allgemein in der Epoche der Aufklärung verankert. Auf der Suche nach adäquaten Formen, den Charakter des Menschen sprachlich zu erfassen, gewinnt eine Gattung, die bereits im 17. Jahrhundert der Katalogisierung des menschlichen Geistes gedient hatte, erneut zentrale Bedeutung: die Charakterskizze. Sie steht zwischen Fiktion und Mimesis und befindet sich damit an der Schnittstelle zwischen Literatur und Gesellschaft. Auf der Grundlage von Vorbildern in der sozialen Wirklichkeit generieren die Texte Charaktertypen, die dem Leser ein Instrumentarium in die Hand geben, mit Hilfe dessen er in der Lage ist, die Menschen seiner Umgebung zu dechiffrieren. Das klassizistische Interesse an der Charakterskizze gründet demnach nicht nur in ihrer Verwurzelung in der griechischen Antike, sondern vor allem in ihrer Fähigkeit, dem einzelnen Leser Orientierung in der komplexen, unübersichtlichen Realität zu bieten.

Die Charakterskizze geht in der englischen Frühaufklärung eine Symbiose mit den moralischen Wochenschriften ein. Autoren wie Joseph Addison und Richard Steele im 'Tatler' und im 'Spectator', nutzen die Vorzüge der Charakterskizze in ihren Wochenschriften, um ihre Leser auf unterhaltsame Weise zu bilden. Fiktive 'personae', die jeweils bestimmte gesellschaftliche Bereiche verkörpern, mit Namen und teilweise mit einer eigenen Biographie versehen sind, führen den Leser an unterschiedliche, dem zeitgenössischen Publikum vertraute Orte und reflektieren Ereignisse aus Politik, Kunst, Literatur und Gesellschaft. Sie bringen ihn in Kontakt mit Charaktertypen, die sich z.B. in fiktiven Briefen oder Tagebucheinträgen selbst präsentieren, oder sich in der Interaktion mit der 'persona' offenbaren. Die Autoren der Wochenschriften nehmen Ideen zum menschlichen Charakter aus dem europäischen philosophischen Diskurs auf und verwandeln diese abstrakten Erkenntnisse durch die Gestaltung ihrer Figuren in für den Leser verständliche bzw. verwertbare Informationen. Auf diese Weise schaffen sie Instanzen, die die philosophischen Ideen zum menschlichen Charakter durch die Präsenz und die (sprachliche) Anlage der 'personae' formal und inhaltlich authentifizieren.

Die Arbeit setzt sich zum Ziel, u.a. mit Hilfe neuerer kognitionswissenschaftlicher und narratologischer Ansätze, einen Forschungsbeitrag zur Darstellung der Subjektentwicklung im 18. Jahrhundert zu leisten; damit steht das Projekt im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Philosophie, Anthropologie und (literarischer) Soziologie. Einen Schwerpunkt der Analyse bilden die Mechanismen, die die Beglaubigung des philosophischen Gedankenguts ermöglichen und auf denen die Narrativisierung der theoretischen Konzepte beruht. Dabei ist die Untersuchung des Einflusses von Jean de la Bruyères 'Caractères' (1688) auf die frühen englischen Wochenschriften unverzichtbar, da sich dieses Werk als Träger inhaltlicher und formaler Neuerungen der Charakterskizze und als wichtige Vermittlungsinstanz für die Ideen der französischen Philosophie erwiesen hat. Die literarische Rezeption der Charakterskizze in ihrer Vermittlerrolle von inhaltlichen und formalen Neuerungen soll schließlich anhand der Darstellungsmöglichkeiten von Charakter in einer Auswahl englischer Romane überprüft werden.