Ästhetik der Unsichtbarkeit.
Romantische Imagination und die
Ambivalenz des Visuellen

Dirk Uhlmann

Der Konnex von Sehen und Erkennen spielt in der abendländischen Geistesgeschichte von jeher eine dominante Rolle. Das Primat des Visuellen besteht in der Favorisierung des Sichtbaren im Feld der Wahrnehmbarkeitsmodi vor dem Hör- und Fühlbaren und der Stilisierung des Visiblen zum Erkenntniskriterium par excellence. Dass diese epistemische Auszeichnung des Sehsinnes allerdings nicht unproblematisch ist, spiegelt sich in ihrer tiefsitzenden Ambivalenz wider. Denn als eine Form von Sinnlichkeit ist das Sehen bestens als Quelle von Täuschung und Irrtum geeignet und eine in diese Richtung zielende Kritik bildet immer schon das Revers der epistemologischen Mobilmachung des Sehens. Der Befund einer nach wie vor ungelösten und ausgesprochen paradoxen Ausgangslage hinsichtlich der Privilegierung des Sehens im Register sinnlicher Wahrnehmung ist dazu angetan, eine Geschichte der Sichtbarkeit zu projektieren, bei der die sich wandelnden Bedingungen der visuellen Wahrnehmung in ihrem Wechselverhältnis zu geistesgeschichtlichen Prozessen reflektiert werden.

Das Prinzip der Imagination, verstanden als Möglichkeitsbedingung jedweder Sichtbarkeit, bildet die Schaltstelle zwischen sinnlicher Wahrnehmung und erkennendem Geist und steht somit im Zentrum der skizzierten Ambivalenz des Visuellen. Wenn im 18. Jahrhundert die Einbildungskraft im Zuge einer allgemeinen Aufwertung der Sinnlichkeit zu einem vielbedachten Vermögen avanciert, das eine gewichtige Rolle im Prozess der Autonomisierung des Ästhetischen spielt, ist es die Umstellung von poetologischen Konzepten der Mimesis auf die der Imagination im Übergang von der Klassik zur Romantik, die sich in dieser Hinsicht als vielversprechende Zäsur für eine literaturwissenschaftliche Erschließung jener Geschichte der Sichtbarkeit präsentiert. Der bislang wenig beachtete visuelle Charakter der imaginativen Poetik, welcher die Mehrzahl romantischer Texte folgt, lässt sich chancenreich hochrechnen auf das gesamte geistesgeschichtliche Projekt der Romantik. Im Zentrum der dabei zu berücksichtigenden Texte steht das erzählerische Werk E.T.A. Hoffmanns, bei dem sich am prononciertesten die Realisierung des auf Phantasie abgestellten Programms der Romantik nachzeichnen lässt. Aber auch viele Prosatexte von Tieck, Brentano, Arnim, Eichendorff, Chamisso und Fouqué bieten Möglichkeiten, dem Leitfaden jener problematischen Visualität zu folgen. Über die ambivalente Signatur von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ergeben sich gangbare Möglichkeiten des Zugriffs auf Zusammenhänge, die aufgrund ihrer zunächst äußerst heterogen erscheinenden Elemente unentdeckt blieben. Es wird damit der Blick frei auf eine 'Ästhetik der Unsichtbarkeit', die in der Romantik ihre erste Formierung erfährt und in der ästhetischen Tradition der Moderne eine wichtige Rolle übernimmt.