Christlicher Pietismus und jüdischer Chassidismus.
Zum Vergleich zweier eigengeprägter Frömmigkeits- bewegungen im Zeitalter der Frühaufklärung

Patrick Wulfleff

Durch die Beobachtung, dass einige der grundsätzlichen Anliegen dieser beiden großen Frömmigkeitsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts gewisse Ähnlichkeiten zeigen, aber auch durch die Individualisierungstendenz beider Bewegungen sind zahlreiche Forscher (auf beiden Seiten) zu dem Pauschalurteil gekommen, dass der Pietismus auf protestantischer Seite und der Chassidismus auf (ost-)jüdischer Seite in ihrer Frömmigkeitspraxis Gemeinsamkeiten aufweisen würden.

Im Rahmen dieses Forschungsprojektes soll untersucht werden, inwieweit hinsichtlich der Frömmigkeitspraxis tatsächlich die Rede sein kann von "erstaunlichen Gemeinsamkeiten" (Martin Brecht) oder gar von "Verwandtschaft" (Johannes Wallmann).

Hierzu sollen zunächst die grundsätzlichen Anliegen beider Frömmigkeitsbewegungen (etwa ihre in den 'Gründungsschriften' geäußerte Kritik an der jeweiligen Orthodoxie) im Einzelnen herausgearbeitet werden: Welche Ideen und zentralen Absichten machen 'den' Pietismus zu einer Frömmigkeitsbewegung, gar zu einer religiösen Erneuerungsbewegung, welche 'den' Chassidismus? Wodurch setzen sich beide von ihren etablierten Ursprüngen ab? Der Ausgangspunkt eines strukturellen Vergleichs kann, so der Ansatz dieser Arbeit, nur in der Gegenüberstellung dieser zentralen Anliegen und Selbstdefinitionen liegen. Welche theologischen Positionen hatten die beiden Bewegungen gemeinsam?

Nicht zu vernachlässigen wird zudem die Überlegung sein, welche Rolle das geistesgeschichtliche, aber auch das soziokulturelle Umfeld bei der Entstehung und Etablierung beider Bewegungen gespielt hat: Nichts entsteht in einem luftleeren Raum und dementsprechend sollten m. E. die Verhältnisse des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts nicht ignoriert werden.

Der eigentliche Schwerpunkt der Untersuchung soll jedoch auf dem Vergleich der jeweiligen Frömmigkeitspraxen liegen, die auf diesen zentralen Anliegen gründen, und damit auf der Frage, auf welche Weise die Forderungen der ‚Gründungsväter’ ins alltägliche Leben der Anhänger der Bewegungen umgesetzt wurden: Lassen sich hier tatsächlich "Parallelen", "Gemeinsamkeiten" oder eine "Verwandtschaft" aufzeigen?

Diese Rekonstruktion soll in einen Vergleich münden, der nicht zuletzt durch die Entwicklung einer eigenen Kriteriologie für die besondere Frömmigkeit zwischen spätem Barock und früher Aufklärung ermöglicht werden soll.