Zur Entwicklung der Hermeneutik
in der Aufklärung

Prof. Dr. Ulrich Barth (Theologie)

Prof. Dr. Claus Osthövener (Theologie)

Insbesondere deistische Religionskonzepte unterstellen systematisch, dass sich die Menschen innerhalb der Grenzen ihrer natürlichen kognitiven Fähigkeiten – also ohne die übermenschlichen Zumutungen einer transzendenten Offenbarung – eine Sphäre erschließen können, die in einzigartiger Weise die Auszeichnung des Göttlichen verdient. Die Untersuchungen der Wege esoterischer Religionskonzeptionen in die Aufklärung und durch die Aufklärung finden eine Fortsetzung mit anderen Mitteln in diesem Projektbereich. Hier soll gezeigt werden, wie durch das geradezu paradigmatische Zusammenwirken des Baumgarten-Schülers Johann Salomo Semler, Lessings, Herders und Kants sowohl kritisch-historische wie moralische, ästhetische und psychologische Methoden der Bibelexegese nicht nur bis zu einem Niveau ausreifen, auf dem die Bibelhermeneutik zu einer Metatheorie der Theologie wird. Die Interpretationsmethoden für die Bibel werden auf diesem Weg auch – entgegen den traditionellen, allegorischen Methoden – mit anthropologischer Striktheit an die Verstehensmöglichkeiten des Menschen gebunden und damit von der gläubigen Hinnahme einer Offenbarungsreligion schrittweise dispensiert. Die Religionskritik ist hier nicht eine Spielart der Ideologiekritik, sondern – im Sinne Kants – eine kritische Untersuchung der Grenze, bis zu der jeder Mensch einer rationalen Religion fähig und bedürftig ist. In der facettenreichen Genese der Hermeneutik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutete dies nicht nur die neuzeitliche Transformation des allgemeinen Rationalitätsverständnisses, sondern zugleich auch die neuzeitliche Transformation des Religionsbegriffs.