"Den Freunden der Wahrheit gewidmet". |
Der Mensch ist offenbar geschaffen, um zu denken;
das ist seine ganze Würde und sein ganzes Verdienst; und
seine ganze Pflicht ist, zu denken, wie es sich gehört. Nun
verlangt es die Ordnung des Gedankens, daß man bei sich
anfange, bei seinem Urheber und seinem Endziel. Woran
denkt nun die Welt? Niemals daran; sondern daran, zu tanzen,
die Laute zu spielen, zu singen, Verse zu machen, nach
dem Ring zu stechen usw.; sich zu duellieren, sich zum
König zu machen, ohne daran zu denken, was das heißt,
König zu sein und Mensch zu sein.
(Pascal, "Gedanken", Nr.130)
Das Verfassen und Lesen essayistischer Texte bedeutet Selbstkonstitution durch Sinnsuche, Konstruktion von Wahrheit in Auseinandersetzung mit der alltäglichen, persönlichen Erfahrung. Entstanden im Späthumanismus, in den Essaysammlungen Michel de Montaignes (1580) und Francis Bacons (1597), knüpft der Essay als literarische Form an die textbasierten Selbsttechniken des antiken Stoizismus und des frühen Christentums an. Zwar stellt der Essay zunächst ein Selbstgespräch dar, doch inkorporiert er notwendig eine dialogische Struktur, aus der sich seine erkenntnispragmatische Dynamik entfaltet. Ein reflektierendes "Ich" spricht hier das eigene "Selbst" oder einen abwesenden Freund als "anderes Selbst" und Projektionsfläche des eigenen Erkenntnisprozesses an. Auf dieses Selbst hin wird die Wahrheit in Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema oder einer drängenden Fragestellung entworfen, um es in das präsentierte Ich zu verwandeln, welches ein bestimmtes Wissen über den Menschen und die Gesellschaft aktiv in Handeln umsetzt. Dabei gilt der Anspruch der gewonnenen Wahrheit nur für den jeweiligen Text und verleiht diesem als literarische Darstellung der Metamorphose von Subjektivität eine auch ästhetische Abgeschlossenheit.
Um 1700 gewinnt der Essay durch die moraldidaktische Programmatik der Frühaufklärung an gesellschaftlicher Bedeutung. In ihm artikuliert sich die naturrechtlich geprägte "gesunde Vernunft", auf deren Gesetzmäßigkeiten sich die neu entstehende bürgerliche Öffentlichkeit beruft. Als zentrale Form des popularphilosophischen, zwischen unterschiedlichen akademischen Disziplinen und der Lebenswelt vermittelnden Interdiskurses konstituiert sich im Essay bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein die aufgeklärte bürgerliche Subjektivität. In meinem Dissertationsprojekt gehe ich dieser Funktion des essayistischen Schreibens als Selbsttechnik im deutschsprachigen Raum zwischen Frühaufklärung und Idealismus nach. Ich verfolge damit zwei Ziele: Zum einen wird der Essay als nicht-fiktionale Prosagattung durch eine Nachzeichnung seiner gattungsgeschichtlichen Entwicklung gegenüber der traditionellen Gattungstriade (Epos, Drama, Lyrik) aufgewertet. In literaturgeschichtlichen Darstellungen der Aufklärung wird der Essay zumeist nicht berücksichtigt, da er zwischen Literatur und Wissenschaft (d.h. Philosophie) angesiedelt wird und seine Literarizität durch die Charakterisierung als Gebrauchsform in Frage steht. Die Literarizität des Essays wird jedoch deutlich, wenn man das enge Verhältnis von Form und sprachlicher Gestaltung zum Inhalt des Textes betrachtet und zeigt, dass es sich beim Essay um eine literarische Darstellung des Denkens selbst handelt. Zum anderen kann, aufbauend auf dieser gattungsgeschichtlichen Aufwertung, nachvollzogen werden, wie in der Essayistik der Aufklärung Subjektivität in der Aushandlung von Normen und Werten entsteht. Meine Untersuchung des Essays als Selbsttechnik stützt sich vor allem auf Michel Foucaults Vorlesungsaufzeichnungen unter dem Titel "Hermeneutik des Subjekts" (1981/82) und Christian Mosers kritische Auseinandersetzung mit diesem Werk in seiner Habilitationsschrift "Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne" (2006).
Die Untersuchung erfolgt anhand von Fallanalysen, welche an dem jeweils herrschenden Wahrheitsverständnis und dessen gesellschaftlicher Bedeutung gemessen werden. Leitend ist die Fragestellung, was für eine Art von Ich sich jeweils im Essay artikuliert und welche Techniken der Selbstkonstitution (oder im zeitgenössischen Begriffsgebrauch: "Methoden" des Denkens) der Text präsentiert, um das angesprochene Selbst in dieses Ich zu verwandeln. Mit dem von Jürgen Link etablierten und von Rolf Parr für die Essayismus-Forschung adaptierten interdiskurstheoretischen Ansatz wird der Essay dabei als zunächst ausschließlich moralistischer Interdiskurs beschrieben, in welchen im Laufe des 18. Jahrhunderts auch immer stärker spezialdiskursives Wissen integriert wird. Er formiert sich als Wissensform im Zuge der Entstehung einer selbstreflexiven bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich nicht zuletzt an den sozialen Praktiken und der Wissenskultur der (vor allem französischen) Aristokratie orientiert.
Durch den Ansatz, den Essay der Aufklärung nicht im Hinblick auf den Essayismus des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern in der Kontinuität textbasierter Selbsttechniken seit der Antike zu untersuchen, werden auch neue Perspektiven für das Verständnis des Verhältnisses von Essay und Aufklärung in der Essayistik des 21. Jahrhunderts eröffnet.