Bibelhermeneutik. |
Eine Epoche droht immer dann unter Druck zu geraten, wenn deren Nachfahren sich im Besitz solcher Denkinstrumentarien glauben, die das vormals Gedachte nicht nur zu überbieten, sondern auch hinsichtlich des in dieser Epoche Unabgegoltenen zu dechiffrieren erlauben. Dieses Schicksal wurde der deutschen Aufklärung dadurch zuteil, dass noch aus ihrem Wurzelgrund Kants Transzendentalismus, der dann aber weit in die grandiosen Systemschöpfungen des klassischen deutschen Idealismus hineinreichen sollte, sich herausentwickelt hat. Durch Jacobi, der in ihm – als Stellvertreter – der Aufklärung in toto den Herzstoß versetzen wollte, in den Pantheismusstreit gezerrt, geriet damit zugleich ein Vertreter des 18. Jahrhunderts, den Kant einst als den Einzigen und Lessing als einen neuen Spinoza feiern konnte, in Misskredit: Moses Mendelssohn.
Unsere Untersuchung setzt sich das Ziel, unter dem Blickwinkel der Bibelhermeneutik Mendelssohns Religionsphilosophie genetisch zu rekonstruieren und in einen strukturellen Vergleich zur Herausbildung der ethischen Religion und kritischen Bibelexegese als eines gleichsam metatheologischen Diskurses innerhalb der protestantischen Theologie des 18. Jahrhunderts zu bringen.
In die Aufklärungsdebatte um die Aufwertung und Rehabilitierung des Sinnlichen greift Mendelssohn mit feinsinnigen Analysen des Empfindungsbegriffs innerhalb seiner frühen Ästhetik maßgeblich ein. Leitkategorial bekommt die Empfindung einen Totalitätswert, indem sie dem religiösen Subjekt erlaubt, dem Erhabenen sich zu öffnen. Dieser Empfindungsbegriff ist bibelhermeneutisch vor dem Hintergrund der Poesiedebatte um das Alte Testament zu profilieren, die etwa von Herder und Michaelis unter positiv-kritischem Bezug auf Lowth' "De sacra poesi hebraeorum praelectiones" ausgetragen wird.
In der Auseinandersetzung um die alttestamentliche Religion ist aber noch ein weiterer Gesichtspunkt ausschlaggebend: Im neologischen Kontext wurde das Verständnis der Bibel nahezu vollständig seiner verbalinspiratorischen und offenbarungstheologischen Konnotationen entkleidet, um nunmehr allein in der reinen Gestalt eines Vorsehungs- und Ewigkeitsglaubens loziert zu werden. Zugleich wird damit abgehoben auf die Bildungsdimension mosaischer Religion, die in der biblischen Darstellung ihre sukzessive 'Genese von Bildung' mit repräsentiert. Mendelssohn verzahnt diesen ethisch-bildungstheoretischen Aspekt, der den Wert der Biblischen Religion für gelungene Vollzüge des In-der-Welt-Seins und der Lebensführung herausstellt, mit seiner Auslegung der jüdischen Religion am Leitfaden des Zeremonialgesetzes. Geschichtsphilosophisch bekommt diese Verzahnung eine ungeheure Brisanz, wenn Mendelssohns Religions- und Geschichtsverständnis etwa in einen Vergleich tritt zu Kants "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784): Kants gattungsgeschichtlich-teleologischem Staats- resp. Verfassungsoptimismus steht gegenüber eine eher pessimistische Geschichtsphilosophie, die die Diskontinuität historischer Ereignisabläufe in einer Individuation religiös-kultureller Bildungsprozesse kompensiert. In den Übertragungen des Pentateuch und der Psalmen findet sich gleichsam eine Transformation religiöser Prinzipienreflexion in die konkreten Sprachgestalten gelebter Religion, so dass Mendelssohns Bibelübersetzung als der Versuch verstanden werden darf, Religion im Vollzug ihrer Anwendung verstehen zu wollen.