Aufgeklärtes Wissen

Prof. Dr. Reinhold Viehoff
(Medien- und Kommunikationswissenschaften)

Prof. Dr. Gerd Antos (Angewandte germanistische Linguistik)

Das Projekt thematisiert mit Mitteln der Philosophie, der Angewandten (germanistischen) Linguistik und der Medien- und Kommunikationswissenschaften die Frage nach dem kognitiven Typus, nach den Entwicklungsformen und nach den Verwendungsformen eines Wissens, das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer wichtiger geworden ist. Über dieses Wissen muss man verfügen, wenn man in der interpersonellen, in der apparativen bzw. in der medialen Kommunikation Informationen – und insbesondere Experteninformationen – aus erster, zweiter, dritter oder noch weitläufigerer Hand mit Blick auf ihren Wahrheitsgehalt und/oder ihren praktischen Nutzen einschätzen muss. Die Proliferation solcher Informationen, also die massenhafte Verbreitung von Informationen an einen unbegrenzten Kreis anonymer Adressaten, beginnt mit der 'Encyclopédie' von d'Alembert und Diderot im Jahre 1751. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat diese Entwicklung auf dem gegenwärtigen Niveau der Internetkommunikation erreicht.

Die philosophische Erkenntnistheorie identifiziert den Typus des Wissens, das für einen sachgemäßen, situationsgerechten und zweckdienlichen Umgang mit den informationellen Spaltprodukten beliebiger Kommunikationen vonnöten ist, als ein spezielles Know-how – als praktisches Gebrauchswissen, also als das Wissen, wie man von brauchbaren Elementen der Menschenwelt und insbesondere von Informationen in der Praxis einen guten Gebrauch machen kann. Das aufgeklärte Wissen repräsentiert dasjenige Niveau dieses speziellen Know-how, auf dem sein Inhaber mit den ihn betreffenden Elementen seiner Lebenswelt unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit, der Rechtlichkeit, der Politik und der Moral gut umzugehen weiß.

Der britische Philosoph Edward Craig hat vier Bedingungen ausgearbeitet, von denen zwei die Schlüsselrolle eines 'Rationalitätsstandards' für den Umgang mit den informationellen Spaltprodukten beliebiger Kommunikationen spielen:
1. Der Informationsbedürftige muss den 'Wahrscheinlichkeitsgrad' abwägen können, mit dem eine kommunizierte Information 'wahr' ist;
2. der Inhalt der Information und der Wahrscheinlichkeitsgrad ihrer Wahrheit müssen 'ausreichend' für den Gebrauch sein, den der Informationsbedürftige von der jeweiligen Information in seiner konkreten informationellen Bedarfssituation zugunsten seiner jeweiligen praktischen Ziele macht.

Die Fragestellungen, die sich in diesem Zusammenhang insbesondere aus der stürmischen Entwicklung der 'Internet-Kommunikation' ergeben, werden unter der Obhut der Angewandten (germanistischen) Linguistik am Muster der Kommunikation zwischen individuellen Bürgern, Organisationen, Firmen, Institutionen und Wissenschaftlern über medizinische und ärztliche – also diagnostische, therapeutische und salutogenetische – Probleme untersucht. Hier sollen die kognitiven, praktischen, sozialen und emotionalen Beziehungen zwischen Experten und Laien, Experten und Gegenexperten, Ärzten und Patienten ebenso untersucht werden wie die ökonomischen Tragweiten, die sich aus der 'Vermarktlichung' des Gesundheitswesens und damit aus den agonalen Formen des Bemühens um den Patienten ergeben. Den Leitaspekt der Untersuchung bildet der Gedanke, dass sich der Patient mit seinem vitalen Interesse an 'Aufklärung' einer stetig wachsenden Zumutung an seine Urteilskraft und sein aufgeklärtes praktisches Gebrauchswissen ausgesetzt sieht. Die sprachlichen und die rhetorischen Modi der einschlägigen Wissensrepräsentationen und deren suggestionsstrategische Einbettung in Käuferwerbung und Unterhaltung stempeln deren Untersuchung zu einer Aufgabe der angewandten Linguistik. Durch vergleichende Untersuchungen zur Wissensrepräsentation in klassischen literarischen Enzyklopädien bleibt in methodischer Hinsicht die Kontinuität des Projekts mit dem Ursprungsjahrhundert der enzyklopädischen Proliferation von Experteninformationen gewahrt.

Die Ausweitung der leitenden Fragestellungen auf die Medien-Kommunikation zielt auf strukturelle Probleme der Fernseh-Kommunikation und des Umgangs mit den Möglichkeiten der Internet-Enzyklopädie 'wikipedia'. Es geht zum einen um die Frage, inwiefern die visuellen und die verbalen Präsentationen durch das Fernsehen mit kontrollierbaren externen und internen Normen, Konventionen und anderen Regeln verflochten sind, deren Nutzerorientierung dazu beitragen kann, dass Grade der Authentizität (1), der Glaubwürdigkeit (2), der Validität (3) und der praktischen Verlässlichkeit (4) von direkt und indirekt kommunizierten Informationen kontrolliert werden können. Ein Schlüsselproblem bietet das Medium durch seine inhärente Tendenz, Tatsacheninformationen und Meinungsäußerungen mit Unterhaltungsmitteln und fiktionalen szenischen Gestaltungen zu verflechten, sowie durch die Tatsache, dass fiktionale Inszenierungen von Ausschnitten der Alltagswelt die Kontrolle durch die vier Kriterien tendenziell unterlaufen. Die Arbeiten dieses Teil-Projekts sollen daher auf der Basis empirischer Untersuchungen zur Entwicklung von 'Rationalitätsstandards' beitragen, die von Anbietern und Nutzern gemeinsam respektiert werden können.

Die an 'wikipedia' orientierten Untersuchungen thematisieren die strukturellen Kommunikationsprobleme am Beispiel der jüngsten, elektronischen Gestalt einer Enzyklopädie mit universellem Repräsentationsanspruch. Zusätzlich zu allen kognitiven und informationellen Strukturproblemen, die schon mit allen enzyklopädischen Vorgängern verbunden waren, kommt durch die technische Struktur des Internet ein völlig neues, hochkomplexes Rollenwechselspiel der 'Enzyklopädisten' zum Zuge: Jeder Teilnehmer kann im ständigen Wechselspiel Experte bzw. Laie, Informant bzw. Informationsbedürftiger und Kritiker bzw. Kritisierter sein. Eine sowohl in empirischer wie in theoretischer Hinsicht außerordentlich anspruchsvolle wie fruchtbare 'Logik der enzyklopädischen Kommunikation' zeichnet sich als Fernziel dieser Untersuchungen ab. Wer über eine solche Logik als einen Teil seines Know-how im Umgang mit 'wikipedia' verfügt, verfügt insofern über das für diese Datenbank angemessene 'aufgeklärte Wissen'.